Wie wachsen Städte in Zeiten zunehmender Urbanisierung nachhaltig? Das wissen nur wenige so gut wie Dr. Gerhard Schrotter. Er ist ‘Direktor Geomatik und Vermessung’ der Stadt Zürich und setzt auf das Konzept der Responsiven Stadt.
Die zunehmende Urbanisierung ist auch eine Chance für Städte – vorausgesetzt, sie wissen, was auf sie zukommt. Doch wie lassen sich die Weichen für eine nachhaltige Stadtentwicklung stellen? Dr. Gerhard Schrotter verrät im Interview, welche Rolle dabei der digitale Zwilling einer Stadt, Daten und Geoinformationssysteme spielen.
Herr Dr. Schrotter, Sie sprechen von der ‚Responsive City‘ statt der ‚Smart City‘ – was können wir uns darunter vorstellen?
Die Responsive City ist eine Weiterentwicklung der Smart City. Wenn wir zurück gehen, sehen wir verschiedene Schritte der Entwicklung:
- Zuerst kam der ‚See-Effekt‘, vom englischen to see, also sehen. Sensoren wurden installiert, um die Infrastruktur zu monitoren.
- Daran schließt sich der ‚Think-Effekt‘ an. Die einzelnen Elemente, also die Sensoren, werden miteinander verknüpft. Das beschreibt das smarte Element, also die Stufe ‘Smart City’.
- Der dritte Schritt ist der ‚Do-Effekt‘. Das bedeutet, dass die Informationen öffentlich zugänglich sind und auch Menschen außerhalb der Verwaltung mit dieser Technologie einen Mehrwert generieren können.
Ich möchte das gerne an einem Beispiel verdeutlichen: Wir haben eine Applikation entwickelt, die heißt „Züri wie neu“. Mit dieser App kann die Bevölkerung Schäden an der Infrastruktur melden. Jede/r kann mitwirken, um die Stadt zu verbessern und die Stadt reagiert sofort darauf. Der Nutzen ist: Früher musste man verschiedene Stellen anrufen, um zu wissen, wer für welche Infrastruktur bzw. für die Reparatur zuständig ist. Jetzt tippt man seine Meldung in die App und die Verwaltung koordiniert im Hintergrund. So führt das digitale Feedback der Bevölkerung zu einer Verbesserung im Realen.
Smart bedeutet also: Was kann ich technologisch machen? – und responsiv bedeutet: Wie wende ich es an?
„Die Responsive Stadt ist eine Weiterentwicklung der Smart City.“
Die Stadt Zürich ist attraktiv und wächst. Was bedeutet das für die Bürger und Verwaltung?
Die Stadt Zürich und auch die ganze Region wächst. Es gibt Szenarien, die prognostizieren, dass die Stadt bis 2040 um ca. 82.000 Einwohner größer sein wird, das sind rund 20 Prozent.
Die Herausforderungen sind klar: Man muss baulich verdichten, aber trotzdem die hohe Lebensqualität in den Quartieren behalten und die Identität bewahren.
Verdichtung ist vor allem dort möglich, wo neue Gebiete erschlossen werden. In Zürich West oder auch in Zürich Nord gibt es aktuell eine hohe Bautätigkeit. Das Wichtigste dabei ist, dass man so plant, baut und gestaltet, dass die Lebensqualität in den Quartieren erhalten bzw. verbessert wird.
Wie stellen Sie eine vorausschauende Stadtplanung sicher?
Wir wissen, dass bauliche Verdichtung beispielsweise das Stadtklima beeinflusst. Das hat wiederum Auswirkungen auf die Lebensqualität der Bewohner. Daher ist es sinnvoll, städtebaulich vorausschauend zu planen, um Hitzeinseln – sogenannte Urban Heat Islands – zu vermeiden.
Die Stadtverwaltung Zürich hat dafür die Fachplanung Hitzeminderung entwickelt. Diese zeigt, welche Stellen besonders vom Urban-Heat-Island-Effekt betroffen sind. Analysieren wir die Strukturen, die sich mit 3D-Gebäudedaten simulieren lassen, wird der Einfluss der Bebauung auf die Luftströme in der Stadt erkennbar.
Hintergrund: Die Stadt Zürich hat eine sehr günstige topografische Lage. Die Talsohle wird erhitzt, aber durch den Zürichsee und die Hügel im Umland wird die Luft abgekühlt. Im Tagesverlauf entstehen durch diese Temperaturunterschiede ausgleichende Luftbewegungen. Es gibt eine Art Kaltluftsystem. Es ist also wichtig darauf zu achten, die Luftschneisen nicht durch Bebauung zu unterbrechen.
Um dieses Luftaustauschsystem auch in Neubaugebieten zu gewährleisten, kann mit 3D-Geodaten vorab simuliert und analysiert werden, wie die Neubauten und die Bepflanzung gestaltet sein sollten, um ein angenehmes Stadtklima zu unterstützen.
In diesem Zusammenhang fällt oft der Begriff „Digital Twin“, den es auch von der Stadt Zürich gibt. Was können wir uns darunter genau vorstellen?
Wenn wir über den Begriff des digitalen Zwillings sprechen, tauchen oft unterschiedliche Vorstellungen auf. Daher vorab eine kurze Einordnung: Digitaler Zwilling bedeutet grundsätzlich, dass etwas im physischen Raum digital abgebildet wird und die beiden Räume ununterbrochen verbunden sind.
Legt man das Konzept konsequent auf eine ganze Stadt um, bedeutet das, dass man eine ganze (digitale) Stadt bauen müsste, die 1 zu 1 wie die Stadt im physischen Raum lebt. Das wäre ziemlich herausfordernd.
Wir können aber einzelne, unterschiedliche Komponenten herausnehmen und diese jeweils deckungsgleich abbilden: Solche Komponenten sind das Gelände, Gebäude, Vegetation oder der Straßenraum. Nicht alle Komponenten müssen in gleicher Frequenz aktualisiert werden.
Zum Beispiel ist es bei der Überwachung der Luftqualität sinnvoll, dass der CO2-Sensor in Echtzeit mit der digitalen Welt verbunden ist. Bei der Komponente ‚Gelände‘ können wir hingegen auf eine ständige Aktualisierung verzichten. Dort reicht vielleicht eine jährliche Aktualisierung. Denn es ist auch immer eine finanzielle Frage, wie man die Daten nachführt.
Der Begriff ‘Digital Twin’ ist eine große Wolke, die nicht klar definiert ist. Ich fokussiere mich bei der Beschreibung des Begriffes in erster Linie auf die Datenbasis. Denn für mich hängt ein Digitaler Zwilling klar mit 3D-Geodaten und Modellen, ihrer Frequenz und ihrer Nachführung zusammen.
Der Digital Twin ist fest im Strategieschwerpunkt Digitale Stadt verankert. In diesem Bereich gibt es im Moment neun Vorhaben, welche die Weiterentwicklung des digitalen, räumlichen Abbildes ermöglichen, z.B. Strassenraum 3D.
Lesen Sie mehr dazu: The Digital Twin of the City of Zurich for Urban Planning
Welchen praktischen Nutzen für Verwaltung und Bürger hat das 3D-Geodatenmodell der Stadt Zürich?
Es gibt unzählige Beispiele, wie Geodaten eingesetzt werden. Wenn wir über die GIS-Stadt Zürich sprechen, dann sprechen wir über 25 verschiedene Abteilungen. Gemeinsam generieren wir unzählige Applikationen. Unser Fokus liegt dabei auf der Stadtplanung. Die vorher erwähnte Fachplanung Hitzeminderung ist ein Beispiel: In diesem Rahmen werden Szenarien mit Hilfe von 3D-Gebäudedaten, Schattenwurfanalysen und Bepflanzungsoptionen entwickelt. Die derzeitigen Räume werden unter Berücksichtigung des PET INDEX (Physiological Equivalent Temperature) analysiert. Dabei geht es um den sogenannten thermalen Komfort von Personen und dies wird für den öffentlichen Raum simuliert.
Ein weiterer wichtiger Punkt für mich ist die Historisierung, also die Dokumentation der geschichtlichen Stadtentwicklung. Man kann aus bisherigen Strukturen lernen, indem die Wirkung von Bauten auf das Umfeld dokumentiert wird und darauf aufbauend Zukunftsszenarien entwickelt werden können.
Sie setzen GIS bei der Stadt Zürich seit 20 Jahren ein. Welchen Stellenwert haben Geoinformationssysteme heute – und wie sieht die Zukunft aus?
Geoinformationssysteme werden immer wichtiger. Wir veröffentlichen unsere 3D-Geodaten seit Ende 2018 auf den Open Government Data Portal der Stadt Zürich. Ein Drittel aller Downloads auf diesem Portal sind 3D-Geodaten – und wir beobachten ein wachsendes Interesse. Diese Tendenz sehe ich übrigens auch bei Portalen anderer Städte. Geodaten stehen oft an oberster Stelle.
Ein Drittel aller Downloads auf diesem Portal sind 3D-Geodaten – und wir beobachten ein wachsendes Interesse.
Dr. Gerhard Schrotter
Aus den Open Data entstehen seitdem viele neue Anwendungen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die die Urban Trees-App, eine Anwendung aus dem Bereich Augmented Reality. Mit dieser App können Sie einfach Ihr Smartphone auf einen Baum ausrichten und Sie bekommen Informationen wie die Baumart oder Typenbezeichnung direkt angezeigt. Datengrundlage ist das Baumkataster, der als Open-Data-Satz frei bereitgestellt wird.
Es werden sehr viele weitere Anwendungen entstehen. Das ist genau im Sinne einer Responsive City: Durch den Zugang zu den offenen Daten der Verwaltung kann jede/r – private Unternehmen oder auch Einzelpersonen – Anwendungen entwickeln und damit die Daten weiter für sich und andere in Wert setzen.
Möchten Sie zum Ende das Wichtigste nochmal herausstellen?
Die Responsive Stadt ist eine Weiterentwicklung der Smart City. Das möchte ich herausheben. Im Vergleich zu Smart City ist der Begriff weniger technologiegetrieben. Responsiv bedeutet, dass es in einer Stadt unterschiedliche Akteure gibt, die miteinander interagieren und miteinbezogen werden. Der Nutzen von Daten und Technik zum Vorteil für Bürger steht im Zentrum.
Der Digitale Zwilling, also die 3D-Geodatenmodelle mit den Konzepten der Nachführung, ist die Grundlage für eine Responsive Stadt. Der Begriff ‘responsiv’ betont den Nutzen smarter Technologien, zentrisch auf den Menschen hin.
Lesen Sie in diesem kostenfreien E-Book, wie Städte und Regionen Entwicklungen analysieren und die richtigen Weichen für ein vernetztes Miteinander stellen.
Das Interview führte Elisabeth Steindl.