Über 30.000 Kilometer Streckennetz, rund 5.400 Bahnhöfe und zahlreiche Fahrzeuge deutschlandweit: Die Deutsche Bahn produziert vom Personenverkehr über ihre Werke bis hin zum Güterverkehr tagtäglich Ortungsdaten. Im Interview mit Daniel Betz und Philippe Rieffel vom Venture „TracE“ der DB Systel sprechen wir über Digitalisierung, Digital Factory Twins und die Bedeutung von GIS und Location Services für den Konzern.
Im Interview mit Daniel Betz (Product Owner Venture “TracE – Tracking Everywhere”) und Philippe Rieffel (Product Owner Team “TracE System & Services”) von der DB Systel GmbH
Was braucht es in Ihren Augen, um die Digitalisierung im Konzern der Deutschen Bahn nachhaltig voranzutreiben?
Daniel Betz: Um die Digitalisierung voranzutreiben, müssen wir zunächst eine saubere Datenbasis aufbauen. Diese Datenbasis ist häufig bereits vorhanden. Unsere Aufgabe bei TracE ist es, die Ortungsdaten zu vervollständigen. Dadurch generieren wir eine Datenbasis, die es bislang in dieser Form nicht gab.
Das ist wichtig, weil die Deutsche Bahn aufgrund ihrer vielen physischen Objekte einer der größten Produzenten von Ortungsdaten in Deutschland ist. Wir führen die verschiedenen, bereits existierenden Lösungen in einer Plattform zusammen und realisieren übergreifende Auswertungen.
Das Team TracE ist Teil der DB Systel GmbH, dem Digitalpartner der Deutschen Bahn, und setzt auf Location Services als Treiber der Digitalisierung im Konzern der Deutschen Bahn. Neben Basisservices bietet TracE Ortungslösungen in den 3 Themenfeldern Asset Tracking, Personenindoorortung (PIO) und Fahrzeugortung (FzO).
Wie ist das Team TracE angelegt und welchen Herausforderungen muss sich Ihr Team stellen?
Daniel Betz: TracE ist ein Venture der DB Systel und als internes Startup angelegt. Das gibt uns personelle, finanzielle und inhaltliche Freiheiten. Derzeit arbeiten wir in drei Teams: Im Team Projects verantworten wir die Projekte und setzen sie bis zu einem gewissen technischen Grad um. Systems & Services bündelt vor allem das Thema GIS, aber auch unsere Expertise im Sensorik-Bereich bei den Ortungstechnologien. Nummer drei, Business, kümmert sich um unsere Marketingkommunikation, das Produkt- und Lieferantenmanagement, die Weiterentwicklung unseres Portfolios und das Veranstaltungsmanagement.
Eine zentrale Herausforderung besteht darin, die erwähnte Datenbasis dort, wo sie generiert wird, zu erheben. Das ist zum Beispiel in den Werken und Werkshallen der Fall. Hier brauchen wir eine neue Ortungsinfrastruktur. Denn sobald wir uns innerhalb von Gebäuden bewegen, können die GPS-Antennen auf unseren Fahrzeugen aufgrund der fehlenden Verbindung häufig keine Ortungsdaten mehr liefern .
Wir wollen jedoch hier keine zusätzliche Lösung – neben den bereits in unseren Systemen eingesetzten Lösungen – entwickeln. Unser Anspruch ist es vielmehr, eine Plattform aufzubauen, auf der wir die bestehenden Lösungen mit den Lösungen von TracE kombinieren. In der Esri Plattform, die im Wesentlichen auf ArcGIS Enterprise basiert, haben wir hierfür großes Potenzial gesehen.
Daniel Betz
Product Owner Venture “TracE – Tracking Everywhere”,
DB Systel GmbH
Die Deutsche Bahn AG verwaltet ein riesiges Streckennetz mit Werken, Fahrzeugen und Kund:innen in ganz Deutschland. In welchen Bereichen kommen GIS und Location Services zum Einsatz?
Philippe Rieffel: In einem Konzern wie der Deutschen Bahn gibt es verschiedenste Geschäftsfelder und Projekte, die mit geografischen Informationssystemen arbeiten und in denen Ortungsdaten anfallen. Bei TracE haben wir drei Säulen definiert, in denen wir GIS-Technologie in Kombination mit Ortungstechnologie einsetzen.
Das ist auf der einen Seite das Asset Tracking, das vor allem in Werken eingesetzt wird, in denen Züge gewartet und Teile wie Oberbauhilfen, also Masten, Weichen oder Ähnliches, gebaut werden. Auf der anderen Seite haben wir die Personenortung, dort beschäftigt sich unser Venture mit möglichen datenschutzkonformen Anwendungen zur Personenindoorortung.
Unsere dritte Säule ist die Fahrzeugortung. Die Deutsche Bahn verfügt durch die drei Geschäftsfelder DB Cargo, DB Regio und DB Fernverkehr über eine Vielzahl von Fahrzeugen, die Ortungsinformationen produzieren. All diese Informationen führen wir in einer zentralen Plattform auf Basis von ArcGIS Enterprise zusammen, harmonisieren diese Daten und können darauf aufbauend Analysen, Darstellungen und Auswertungen erstellen.
Im Rahmen des Projekts „ADLER“ stellen Sie Ortungsdaten standardisiert zur Verfügung. Wie gelingt das erfolgreich?
Philippe Rieffel: Wir haben im Konzern verschiedene Geschäftsfelder, die über eigene Ortungslösungen und sogenannte Fahrzeugortungs-Back Offices verfügen. Diese beruhen auf unterschiedlichen Technologien, Entwicklungsständen und eingesetzten Sensoren. Ziel von „ADLER“ ist es, die Daten aus den verschiedenen Geschäftsfeldern zentral zu sammeln, zu harmonisieren und anschließend bereitzustellen.
Dies gelingt uns mit dem Werkzeug, das wir durch ArcGIS Enterprise und den GeoEvent Server an der Hand haben. Mit No-Code- oder Low-Code-Lösungen können wir auf die unterschiedlichen Schnittstellen, die uns andere Geschäftsbereiche zur Verfügung stellen, zugreifen und die Daten zentral sammeln, verarbeiten und mithilfe der Erweiterungen der ArcGIS Plattform auch performant speichern.
Philippe Rieffel
Product Owner Team “TracE System & Services”,
DB Systel GmbH
Sie wollen live erleben, wie GIS und Location Services zum Einsatz kommen? Schauen Sie sich die Keynote von Philippe Rieffel auf der Esri Konferenz 2023 an.
Welche zentralen Mehrwerte bieten Location Services?
Philippe Rieffel: Mit den verschiedenen Ortungsdaten, die wir als Venture über unsere Projekte und Produkte sowohl im Asset Tracking als auch in der Fahrzeugortung erfassen, lassen sich verschiedene Mehrwerte schaffen. Vereinfacht ausgedrückt bringen wir zunächst blaue Punkte auf eine Karte. Was ist jetzt gerade wo? Wohin bewegt es sich? Das ist interessant für Fahrzeuge, für Assets in einem Werk, aber zum Beispiel auch überall dort, wo GPS nicht funktioniert.
Wenn man diese Daten längerfristig erfasst, kann man auf ihrer Basis nicht nur den Ist-Zustand abbilden, sondern potenziell auch einen Ausblick in die Zukunft geben. Engstellen und Kapazitätsprobleme können so frühzeitig erkannt und behoben werden – sowohl in der Verkehrssteuerung als auch dem Bereich Predictive Maintenance.
Welche Rolle spielen Echtzeitdaten?
Philippe Rieffel: Da wir mit unseren Produkten und Lösungen nicht nur angefallene Daten auswerten, sondern Echtzeitdaten aufnehmen und durch die ArcGIS Enterprise Plattform in Echtzeit verarbeiten, können wir sehr zeitnah und nicht nur retrospektiv Situationen wiedergeben. Das bedeutet, wir wissen nicht nur durch Aufzeichnungen, wann welcher Zug oder wann welches Asset an welcher Stelle war. Wir sehen live und mit geringstem Zeitversatz, welcher Zug, welches Asset oder welches Einzelteil sich gerade an welcher Stelle im Streckennetz oder im Werk befindet. Dadurch können wir direkt auf Prozesse einwirken, die Effizienz steigern und Abläufe verkürzen – z. B. bei den Standzeiten in Werken.
Wo stehen Sie aktuell hinsichtlich des Aufbaus eines Digitalen Zwillings?
Philippe Rieffel: In der jüngeren Vergangenheit haben wir uns vor allem damit beschäftigt, Technologien zu etablieren, die Plattform aufzubauen, Produkte auf dieser Basis zu entwickeln und damit Projekte umzusetzen. Das Ziel für die nahe Zukunft sehe ich darin, den Connected Digital Factory Twin auf Basis unserer Produkte im DB-Konzern zu etablieren.
Dort haben wir verschiedene Möglichkeiten, nicht nur Ortungsdaten, sondern auch Daten, die von anderen Projekten und anderen Beteiligten erfasst werden, in einem zentralen Digital Twin zusammenzuführen. Das sind zum Beispiel Maschinendaten und Daten aus Prozess-Steuerungssystemen, um zu wissen, welches Ersatzteil zu welchem Zeitpunkt an welcher Stelle im Werk benötigt wird.
Außerdem können wir mithilfe von Indoor-Ortungstechnologie und dem ArcGIS Indoors Routing sicherstellen, dass wir innerhalb des Digital Twins nicht nur den Ist-Zustand abbilden, sondern auch den Beteiligten im Werk Wege und Hilfsmittel an die Hand geben, um ihre Arbeit schneller, effizienter und sicherer zu erledigen.
Daniel Betz: Mit dem Digital Factory Twin legen wir damit den Fokus auf die Werkshallen. Dazu haben wir zunächst mit der Positionsbestimmung begonnen. Wir wollen also erst einmal wissen, was wo ist. Das haben wir relativ schnell geschafft und sind dann dazu übergegangen, über das Thema Location Intelligence zu sprechen. Hier schließt die Frage an, was wir mit den generierten Positionsdaten machen. Wir haben Kennzahlen entwickelt, erste Analysen durchgeführt und Optimierungspotenziale aufgedeckt. Neben den Expertisen, die wir gesammelt haben, konnten wir dadurch auch standardisierte Produkte entwickeln.
Diese Produkte bilden die Basis für den Digital Factory Twin, der für uns mehr ist als das bloße Anzeigen von Ortungsdaten. Er ist das digitale Abbild eines Werks, in das wir Ortungsdaten einspielen. Zudem können wir weitere Schnittstellen anbinden und den Digital Twin, wie bereits von Philippe erwähnt, beispielsweise mit Maschinendaten in Echtzeit anreichern. Aus der Kombination von Ortungs- und Maschinendaten entstehen dann weitere Use Cases.
Wir sind uns dabei bewusst, dass dieser Prozess nie final abgeschlossen sein wird, denn es handelt sich um ein digitales Abbild, das fortlaufend durch verschiedene Schnittstellen und Systeme mit Daten angereichert wird. Mit der Einspielung von Ortungs- und Maschinendaten sind wir nicht am Ende angelangt. Es gibt immer das Potenzial, weitere Aspekte zu ergänzen und zum Beispiel Dokumentationen abzubilden. Auch Access Points können im visuellen Digital Factory Twin abgebildet und kenntlich gemacht werden. Das hilft etwa bei der räumlichen Verortung von Störungen und ihrer Behebung.
Letztlich besteht der digitale Zwilling also immer aus mehr als den reinen Ortungsdaten, und auch in Zukunft werden immer mehr Daten in dieses digitale Abbild einfließen.
Dieses Interview erschien zuerst in der WhereNext Spezial Sonderausgabe. Sie interessieren sich für digitales Planen, Bauen und Betreiben? Dann entdecken Sie hier weitere spannende Anwendungsfälle von GIS und Digital Twins.
TracE verfolgt eine offene Plattform-Architektur, die Schnittstellen zu anderen Systemen ermöglicht. Warum haben Sie sich für Esri-Technologie entschieden?
Philippe Rieffel: Dadurch, dass wir mit der ArcGIS Enterprise Plattform ein Produkt eingeführt haben, das vor allem auf die Low Code- oder No Code-Implementierung von Lösungen setzt, stoßen wir im Konzern und in der DB Systel immer wieder auf überraschte Gesichter. Denn wir sind in der Lage, mit überschaubarem Aufwand und in planbaren Zeitschienen Daten anzubinden, Lösungen zu implementieren und ein Frontend zu erstellen, das genau an bestimmte Kundengruppen und für bestimmen Einsatzgruppen angepasst ist.
Gleichzeitig können wir sehr schnell prototypische Implementierungen abseits von Papier und PowerPoint liefern und so gerade im vergangenen Jahr neue Projekte, Geschäftsfelder und Kunden von uns überzeugen.
Daniel Betz: Für uns war von vornherein wichtig, dass wir eine Plattform aufbauen, die nicht als weitere Insellösung besteht. Vielmehr wollten wir eine offene, bidirektionale Plattform, an die ich nicht nur verschiedene Systeme anschließen kann und Daten erhalte, sondern eben auch zurückgeben kann.
Gerade weil die Grundlagen wie eine offene Architektur und das schnelle Anbinden von Schnittstellen stimmen, sind wir sehr zufrieden mit dem, was wir heute bereits haben und einsetzen können. Das ist bei vielen eigenständigen Projekten oft keine einfache Aufgabe. Mit der Esri Plattform und insbesondere dem GeoEvent Server erleben wir genau das, was man sich bei einer offenen Plattform wünscht.
Wir sind in der Lage, verschiedenste Schnittstellen schnell anzubinden. Bei der Fahrzeugortung haben wir zum Beispiel verschiedene Fahrzeugortungssysteme, die teilweise unterschiedliche Intervalle in der Datenerzeugung haben. All diese Unterschiede können wir relativ einfach anbinden und alles so konfigurieren, wie wir es benötigen.
Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Daniel Betz: Unser Ziel ist es, unseren Beitrag zu leisten, wie bei der Verbesserung der Pünktlichkeit und der Optimierung des Kapazitätsmanagements. Mit der Datenbasis, die bereits besteht und weiter aufgebaut wird, können wir hier unterstützen. Dazu werden wir weiterhin mehrere Systeme und Daten miteinander kombinieren und wollen uns gerade im Bereich der Analysen weiterentwickeln.
Wir wollen zeigen, worin die realen Herausforderungen bestehen und wie die Bahn funktioniert. Um diese Herausforderungen intelligent zu lösen, gehört es auch dazu, sich mit den Produkten und Lösungen von Esri auseinanderzusetzen: Welche Technologien können uns helfen? Welche Produkte haben wir in der Hinterhand, die vielleicht Antworten liefern können? Um nachhaltig und digital in die Zukunft zu gehen, mündet für mich all das in einer engen und partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit Esri.