Welche Faktoren bedingen einen schweren Verlauf? Und: Warum schafft die sogenannte Testpositivität mehr Klarheit? Neue Antworten rund um Covid-19 liefert diese Datenanalyse.
Rund um die Pandemie fallen immer mehr Daten an; granularere Aussagen werden möglich – so beispielsweise dank der Daten von Krankenkassen. Diese arbeiten mit modernsten Technologien und führen Studien rund um Covid-19 durch.
Welche neuen Erkenntnisse und Schlüsse die Visualisierung dieser Daten auf animierten Karten bringt, verrät Dr. Boris Kauhl von der AOK Nordost im Interview.
Die AOK befasst sich intensiv mit Covid-19. Nun sind erste Studien erstellt worden. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse?
Wir haben uns mit den Hospitalisierungen in Zusammenhang mit Covid-19 beschäftigt, also den Personen, die aufgrund einer Infektion mit SARS-CoV-2 im Krankenhaus behandelt werden müssen. Dabei haben wir uns auf die laborgesicherten Diagnosen mit dem ICD-code U07.1 konzentriert. Hier zeigt sich, dass Männer ein 18 Prozent höheres Hospitalisierungsrisiko als Frauen aufweisen. Über 65-Jährige haben ein 60 Prozent höheres Risiko als unter 65-Jährige.
Bei den Vorerkrankungen zeigt sich, dass vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus, chronische Lungenerkrankungen und chronische Nierenerkrankungen mit einer Hospitalisierung in Verbindung stehen. Dabei ist die Anzahl an Vorerkrankungen eher entscheidend als die jeweilige Erkrankung selbst.
Anhand unserer Daten wird aber auch deutlich, dass soziale Faktoren eine wichtige Rolle spielen: Arbeitslose Personen haben ein 39 Prozent höheres Risiko aufgrund einer Covid-19 Infektion hospitalisiert zu werden als nicht-arbeitslose Personen. Das liegt darin begründet, dass arbeitslose Personen im Allgemeinen einen schlechteren Gesundheitszustand aufweisen als nicht-arbeitslose Personen. Das schlägt sich entsprechend auch in einem erhöhten Risiko für einen schweren Verlauf nieder.
Digitale Karten führen die Ergebnisse vor Augen. Was macht die Datenvisualisierung deutlich?
Anhand der animierten Karten zur Inzidenz und Testpositivität sieht man, dass die erste Welle vor allem in Brandenburg zu flächendeckend relativ gleichmäßig verteilten Hospitalisierungen geführt hat, während in Mecklenburg-Vorpommern vergleichsweise wenig Infektionen in den Krankenhäusern diagnostiziert wurden.
Auch bei den Tests zum Nachweis des Virus sieht man sehr deutlich, dass ausgeprägte regionale Unterschiede bestehen: Im Süden Brandenburgs und im Nordosten Mecklenburg-Vorpommerns wurde kontinuierlich mehr getestet als beispielsweise im Nordwesten Brandenburgs. Das ist eine wichtige Erkenntnis, da die Inzidenz ja auch maßgeblich von der Anzahl der Tests in den Regionen abhängt: Je mehr getestet wird, desto geringer ist die „Dunkelziffer“ nicht erfasster Infektionen.
Daher ist es bedeutend, zusätzlich zur Inzidenz auch das Verhältnis von positiven Tests zu allen durchgeführten Tests – also die sogenannte Testpositivität – zu betrachten. Nimmt man die Testpositivität als Maßstab, dann sieht man, dass während der ersten Welle mehr als 15% aller Tests positiv waren, während sie in den Sommermonaten fast flächendeckend bei unter 1% lag. Seit Ende September steigt sie wieder und bleibt derzeit auf hohem Niveau – allerdings mit stark ausgeprägten regionalen Unterschieden.
Warum ist es sinnvoll, neben der Inzidenz auch die Testpositivität als Bezugsgröße zu verwenden?
Die Inzidenz gibt ja das Verhältnis von erkrankten Personen pro 100.000 Einwohner an. Allerdings werden Daten zu Covid-19 durch Tests erhoben. Man muss also auch wissen, wie viel in den Regionen eigentlich getestet wurde, was von Region zu Region sehr unterschiedlich ausfällt. Vereinfacht ausgedrückt geht es darum, Hotspots zu identifizieren, die nicht nur alleine auf eine erhöhte Anzahl Tests zurückzuführen sind. Daher muss man zusätzlich zur Inzidenz auch die Testpositivität betrachten. Erst wenn sowohl die Inzidenz als auch die Testpositivität in einer Region erhöht ist, kann man davon ausgehen, dass es sich hier um einen relevanten Hotspot handelt. In der Praxis zeigen beide Indikatoren zwar oft einen ähnlichen Verlauf, aber eben nicht in allen Regionen. Genau diese Unterschiede gilt es, genauer zu betrachten.
Wo treten denn Hotspots vermehrt auf – und was sind ihre Merkmale?
Überwiegend treten Hotspots in Regionen auf, in denen das Durchschnittsalter und die Krankheitslast der Bevölkerung hoch sind. Aber – und das ist das tückische an Covid-19 – eben nicht nur. Berlin-Neukölln ist beispielsweise ein Hotspot, der sich nicht allein aufgrund von Altersdurchschnitt und Krankheitslast erklären lässt. Dazu ist das Infektionsgeschehen leider von zu vielen weiteren Faktoren abhängig, die sich nicht messen lassen – wie beispielsweise dem individuellen Verhalten.
Grundsätzlich wird aber eines sehr deutlich: Hotspots halten sich nicht an Landkreis- oder Bundeslandgrenzen. Daher ist es umso wichtiger, Daten zu Covid-19 sehr kleinräumig zu betrachten, um mögliche Hotspots genauer eingrenzen zu können. Oftmals tritt ein Hotspot erstmalig in wenigen Gemeinden oder Ortsteilen auf und breitet sich von dort aus weiter in die angrenzende Region aus. Das zeigt sich beispielsweise sehr deutlich in der momentanen Situation im Süden Brandenburgs: Die Inzidenz ist hier viel höher als im Landesdurchschnitt, aber wahrscheinlich vergleichbar hoch wie in den angrenzenden sächsischen Landkreisen.
“Es ist wichtig, Daten zu Covid-19 sehr kleinräumig zu betrachten.“
Dr. Boris Kauhl | AOK Nordost
Die Hotspots treten teilweise mit Vorankündigung auf. Damit wird auch deutlich, wie wichtig Geodaten zur Eindämmung einer Pandemie sein könnten. Im besten Falle könnten Geodaten genutzt werden, um ein GIS-basiertes Frühwarnsystem zu errichten, das auftretende Hotspots so früh wie möglich erfassen könnte. Solch ein System könnte den Gesundheitsämtern helfen, rechtzeitig in den betroffenen Gemeinden und Ortsteilen zu testen, bevor der gesamte Landkreis betroffen ist und die Gesundheitsämter mit dem Testen nicht mehr nachkommen.
Wer zählt alles zur Gruppe der Risikopatienten?
Auf Basis unserer Ergebnisse zeigt sich, dass vor allem Personen mit den oben genannten Vorerkrankungen und in höherem Alter ein erhöhtes Hospitalisierungsrisiko aufweisen. In den jüngeren Altersgruppen sind es die Personen mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status. Zwar decken sich unsere Ergebnisse weitgehend mit der wissenschaftlichen Literatur zu schweren Verläufen, allerdings unterscheiden sich die Regionen Deutschlands doch recht stark hinsichtlich ihrer demografischen und sozioökonomischen Struktur. Umso wichtiger wäre es, vergleichbare Untersuchungen auch in anderen Regionen durchzuführen, um damit die regionalspezifischen Risikogruppen genauer eingrenzen zu können.
Beispielsweise gilt Krebs auch als relevante Vorerkrankung für einen schweren Verlauf – Krebs war anhand unserer Ergebnisse allerdings nicht mit einem erhöhten Risiko für eine Hospitalisierung assoziiert. Das könnte in anderen Bundesländern anders ausfallen und verdeutlicht einmal mehr die Wichtigkeit, regionalspezifische Risikogruppen genauer einzugrenzen. Dazu spielen Routinedaten eine wichtige Rolle.
Wie lassen sich Ihre Erkenntnisse für die Bekämpfung der Pandemie nutzen?
Die kleinräumige Dynamik von Covid-19 ist ein wichtiges Merkmal der Pandemie. Wir sollten also darüber nachdenken, wie man auf Basis bereits bestehender Routinedaten ein GIS-basiertes Frühwarnsystem errichten könnte, um Hotspots so schnell wie möglich zu identifizieren. Das würde den Gesundheitsämtern helfen, Ressourcen noch gezielter einsetzen zu können. Die animierten Karten zeigen deutlich, dass eine GIS-basierte Surveillance technisch möglich und sehr hilfreich wäre.
Wir können allerdings aufgrund des zeitlichen Verzugs, bis uns diese Abrechnungsdaten zur Verfügung stehen, die raumzeitliche Dynamik der Pandemie nur rückwirkend darstellen und exemplarisch aufzeigen, dass ein Frühwarnsystem technisch umsetzbar wäre. Allerdings ist das Gesundheitswesen datenseitig insgesamt sehr gut aufgestellt.
Die spannende Frage ist daher: Welche bereits bestehenden Routinedaten ließen sich zur Errichtung eines Frühwarnsystems effektiv nutzen?
Welche Routinedaten sind das?
Das müssten meiner Ansicht nach beschwerdebasierte Daten sein, die frühzeitig einen Hinweis auf ein mögliches Infektionsgeschehen geben. Das könnten beispielsweise Notrufdaten mit Covid-19 typischen Beschwerden sein oder auch Anrufdaten des ärztlichen Bereitschaftsdienstes mit Anfragen zu Covid-19. Diese Daten müssten kleinräumig und tagesaktuell ausgewertet werden.
Die Idee dahinter: Beschwerdebasierte Routinedaten nutzen, um einen möglichen Ausbruch so früh und kleinräumig wie möglich zu erfassen, um die Kontaktverfolgung auf ein potentielles Quellcluster zu konzentrieren. Diese Ansätze existieren ja bereits seit längerem und werden in der wissenschaftlichen Fachliteratur als „Syndromic surveillance“ bezeichnet.
Dazu werden solche beschwerdebasierten Daten prospektiv mit speziellen raumzeitlichen Algorithmen automatisch und in Echtzeit analysiert. Ein solches System würde dann einen Alarm ausgeben, wenn sich Covid-19 typische Beschwerden zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Region häufen. Dieser ganze Prozess ließe sich in der Praxis automatisieren.
Gibt es vergleichbare Situationen, in denen sich ein solches Frühwarnsystem bewährt hat?
Während meiner Tätigkeit an der Universität Maastricht haben wir solche Ansätze und die dazugehörigen statistischen Modelle ausgiebig untersucht – und konnten auf diese Art und Weise frühzeitig einen Denguefieber Ausbruch anhand von Notrufdaten in Indien erfassen, bevor die laborbestätigten Diagnosen erfasst wurden.
In der jetzigen Pandemie könnte ein solches GIS-basiertes Frühwarnsystem ein wichtiger Baustein sein, um die Pandemie im Anschluss an den gegenwärtigen Lockdown besser eindämmen zu können.
Der zweite wichtige Ansatzpunkt ist natürlich der Schutz der Risikogruppen. Hier können wir als Krankenkasse anhand unserer Ergebnisse aufzeigen, wer in Nordostdeutschland zur Risikogruppe gehört. Für die Diskussion über eine langfristige Strategie sind diese Ergebnisse sehr wichtig, da am Beispiel Krebs sehr deutlich wird, dass die Risikogruppen sich durchaus in den Regionen unterscheiden können.
Zusammengefasst, welchen Beitrag können Versicherer wie die AOK zur Bekämpfung der Pandemie leisten?
Die entscheidende Frage für uns ist: Was können wir als Krankenkasse tun, um unsere Versicherten so gut wie möglich zu schützen? Hier können wir durch unsere Untersuchungen zur Transparenz beitragen und anhand unserer Ergebnisse aufzeigen, wer zur Risikogruppe gehört. Am Beispiel der animierten Karten können wir auch exemplarisch aufzeigen, dass ein GIS-basiertes Frühwarnsystem für die momentane Situation einen wichtigen Mehrwert leisten könnte. Damit wollen wir auch die Diskussion anstoßen, wie wir bereits existierende Routinedaten für die Eindämmung der Pandemie in Zukunft sinnvoll nutzen könnten.
Digitale Karten ermöglichen Organisationen ein präventives Handeln im Kampf gegen COVID-19. Lesen Sie auf der Webseite von Esri Deutschland mehr dazu.
Hier finden Sie weitere Beiträge zu ArcGIS & Covid-19
- t3n: So berechnest du den 15-Kilometer-Radius von deinem Wohnort
- LinkedIn: Zusammenhalten – Gemeinsam gegen Corona
- Focus Online: Infizierte im Landkreis: Die aktuellen Zahlen für alle Kreise in Deutschland
- XPLR: MEDIA in Bavaria: Datenvisualisierung im Kampf gegen Corona
- Intelligente Welt: Wie funktioniert die Corona-Karte Deutschland eigentlich?
- Computer Bild: Coronavirus-Karte: Verbreitung in Deutschland, Italien, Europa, der Welt
- Netzwelt: Coronavirus-Karte für Deutschland und die Welt
- Chip: Coronavirus-Live-Karte für Deutschland
- Frankfurter Rundschau: Coronavirus-Karten: Aktuelle Fallzahlen in Deutschland
- Business Geomatics: Interaktive Corona-Karte von Esri Deutschland
- IT-Rebellen: COVID-19-Dashboard vom RKI: Präventiv handeln mit digitalen Karten von Esri Deutschland
- Kommune21: Dashboard zu Coronavirus
Lesen Sie in diesem kostenfreien ePaper, wie Organisationen dank Geoinformationssysteme in Pandemie-Zeiten handlungsfähig bleiben.