Die Transformation vom Expertensystem zum GIS für alle
Die Energiewende stellt Deutschland vor enorme Herausforderungen. Geo-IT-Lösungen leisten einen Beitrag zu ihrer Bewältigung. Für Westnetz, den größten Verteilnetzbetreiber in Deutschland, ist die breite und vielfältige Unterstützung der Geschäftsprozesse durch Geografische Informationssysteme (GIS) und digitale Zwillinge der Netze gelebte Praxis.
Deutschland befindet sich auf einem ambitionierten Pfad der Energiewende. Allem voran steht das Ziel, eine nachhaltige Energiezukunft zu schaffen. Das Gebot der Stunde: Defossilisierung.
Elektrifizierung des Verkehrs, Wärmewende, Ausbau von Wasserstofftechnologien, die zunehmende Nutzung erneuerbarer Energien – all das findet hauptsächlich in den Verteilnetzen statt und hat dort massiven Einfluss. Darum sind Digitalisierung und Smartifizierung von Netzen und Netzprozessen für das Gelingen der Energiewende unerlässlich.
Geo-IT und GIS setzt Westnetz schon lange ein, um raumbezogene Informationen in einen Kontext zu stellen, Komplexität zu reduzieren und Erkenntnisse zu ermöglichen. Und nahezu alles, was im Umfeld unserer Netze geschieht – von der Störung über Umweltereignisse bis hin zu Prognosen für die Entwicklung von E-Mobilität – hat einen Bezug zur Umgebung.
Plankammern werden digital
Der Weg von der Plankammer mit von Hand gezeichneten und fortgeführten Folienplänen hin zum Digitalen Zwilling der Netze war lang.
In den Vorgängergesellschaften der heutigen Westnetz begann die Digitalisierung der Planwerke in den 1980er Jahren. Erste GIS-Systeme wurden aufgebaut und die analogen Pläne über viele Jahre digital erfasst.
Heute ist klar, dass GIS mit seiner intelligenten digitalen Abbildung der Netze einen wichtigen Beitrag zur Automatisierung und Digitalisierung von Prozessen geleistet hat. Zum Beispiel bei der Planauskunft, die heute im Self-Service komplett online erfolgt. Oder für digitale Planungsprozesse, bei denen aus der grafischen Planung im GIS automatisch eine detaillierte Mengen- und Leistungskalkulation erstellt und Bestellungen vorbereitet werden.
Seit 2013 konsolidiert Westnetz verschiedene Vorgängersysteme in der heutigen GIS-Landschaft auf Basis von Esri Produkten und VertiGIS UT for ArcGIS.
Netzberechnung, Workforce-Management und viele weitere Prozesse basieren unter anderem auf der vollständigen und intelligenten Dokumentation der Netze im GIS – dem digitalen Zwilling.
Daten aus dem GIS werden entweder direkt mit Geo-IT-Applikationen genutzt oder stehen weiteren Anwendungen über ein Data Hub zur Verfügung. Die Service-Architekturen der Produkte sind sehr flexibel und können im Gegenzug selbst Informationen aus dem Data Hub verwenden.
Der Data Hub beinhaltet unter anderem auch Echtzeitdaten, die über entsprechende Sensorik in den Netzen generiert werden.
Seit dem Beginn der Digitalisierung der Netzpläne hat über viele Jahre eine deutliche Entwicklung im Geo-IT-Umfeld stattgefunden – mit hoher Wertschöpfung für Westnetz. Und der Weg ist nicht zu Ende: Neue Technologien eröffnen neue Potenziale.
KI-Chatbots im GIS ermöglichen es den User*innenn z.B. künftig, einfach und intuitiv auf komplexe geografische Daten zuzugreifen, indem sie natürliche Sprachbefehle verwenden. Aber auch im Coding und der Entwicklung von Skripten entstehen dadurch schon jetzt neue Perspektiven.
Flexibles Agieren ist heute Pflicht
In einer Welt, die sich im rasanten Wandel befindet, ist Flexibilität mehr als nur ein Schlagwort – sie ist eine Notwendigkeit.
Echtzeitdaten, 3D, Cloudifizierung, GeoAI, Machine Learning: In all diesen Technologien stecken Potenziale, die es zu nutzen gilt. Mit Esri und VertiGIS als Partner hat Westnetz in den vergangenen zehn Jahren eine robuste Geo-IT-Basis aufgebaut, die heute flexibles und innovatives Handeln im Kontext der aktuellen Herausforderungen ermöglicht.
Die Bedingungen für Veränderung sind heute deutlich günstiger als bei der Ersteinführung von GIS-Anwendungen. Die Nutzung von Geo-IT-Lösungen, AR und VR, 3D, Cloud Computing oder KI gehört heute zum Alltag – nutzen doch fast alle Mitarbeiter*innen Smartphones.
Umso erstaunlicher ist es, dass die GIS-Lösung im Unternehmen häufig noch als komplexes desktop-lastiges Expertensystem wahrgenommen wird. Das steht nicht für schnelle und innovative Weiter- und Neuentwicklungen.
Der Fokus liegt oft allein auf den klassischen Use Cases wie Netzdokumentation, Bauauskunft, Planung und Workforce-Management. Für die breite Anwendung steht ein universelles Reporting- und Auskunftswerkzeug zur Verfügung.
Westnetz ist es gelungen, in kurzer Zeit GIS für eine große Zahl neuer Anwender*Innen und Use Cases zu öffnen und eine hohe Dynamik in der weiteren Entwicklung in Gang zu setzen. Aus einer ersten einfachen Anwendung im Esri Portal im Jahr 2019 sind mittlerweile über 20 produktive Lösungen geworden, die eine Vielzahl neuer Use Cases bedienen. Mehr als 4.000 User*innen nutzen mittlerweile Portal-Anwendungen auf Basis von Esri Technologie im Unternehmen.
Diese erste Anwendung war für die User*innen vertrautes Terrain: im Browser abrufbar, plattformunabhängig, performant, sofort intuitiv bedienbar, flexibel und schnell erweiterbar und vor allem unmittelbar nutzbringend. WebGIS statt Desktop und die Möglichkeit mobiler Lösungen gepaart mit agilen Entwicklungsansätzen ebnen den Weg zur Verbreitung von Geo-IT-Lösungen. Also vom Expertensystem zum GIS für alle.
In vielen Anwendungsfällen geht es zunächst darum, die richtigen Informationen in der richtigen Kombination und Form darzustellen. Während die Beschaffung oder Aufbereitung von Daten mit der erforderlichen Qualität und Zuverlässigkeit oft die größte Hürde darstellt, ist die Visualisierung und Nutzung keine Herausforderung für Esri Technologie. Meist bieten bereits die Standardprodukte einen Funktionsumfang, der vielfältige Interaktionen mit den entsprechenden Daten ermöglicht.
Aus einem initialen Use Case können aber durchaus komplexere Lösungen entwickelt werden. Agile Methoden bieten dabei eine kontinuierliche Steigerung der Wertschöpfung.
Durch die Möglichkeit, neue Anwendungsszenarien schnell zu testen und bereitzustellen, können auch Lösungen mit sehr begrenzter Lebensdauer geschaffen werden. Die Pilotierung neuer Funktionen und Technologien im Esri Universum ist heute mit deutlich weniger Aufwand verbunden als noch vor einigen Jahren. Vieles ist vorhanden, es muss nur genutzt werden.
Dabei ist zu beachten, dass Technologie allein für die schnelle Entwicklung neuer IT-Lösungen nicht ausreicht. Ein agiles und innovatives Mindset und die richtige Kultur sind wegweisend, um Ideen schnell und erfolgreich in Mehrwert-Lösungen umzusetzen.
Dieser Kulturwandel wurde in der Westnetz bereits vor einigen Jahren initiiert und wird besonders im IT-Umfeld konsequent umgesetzt.
Ein breites Anwendungsspektrum wird abgedeckt
Die Anwendungen, die heute bei Westnetz mit Esri Technologie bereitgestellt werden, zeichnen sich durch eine große Bandbreite aus. Faszinierend sind die Möglichkeiten, den digitalen Zwilling der eigenen Netze mit anderen Daten zu verknüpfen. Auch die eigene Gewinnung von Daten etwa mit Hilfe von Mobile Mapping oder Drohnen schafft neue Möglichkeiten. Es entstehen weitere digitale Zwillinge der Umgebung. Die Möglichkeit der Nutzung von Machine Learning im Kontext mit aufgenommenen Bildinformationen drängt sich geradezu auf.
Im Folgenden werden einige Anwendungsbereiche exemplarisch vorgestellt.
Allen gemeinsam ist, dass die Entwicklung stets gemeinsam mit den User*innenn erfolgt. Die schnelle Bereitstellung von nutzbaren Anwendungen und deren Weiterentwicklung in kurzen Zyklen war ein Kernelement der jeweiligen Entwicklungen. Die Umsetzung erfolgte zumeist durch eigene Mitarbeiter*innen im Unternehmen, in komplexen Fällen unterstützt und begleitet von Esri und Esri-Partnern. Dadurch konnten Lernprozesse mitunter deutlich beschleunigt werden.
Digital Twin in der Praxis
So geht Infrastrukturmanagement mit GIS
Krisenmanagement
Krisensituationen sind dadurch gekennzeichnet, dass schnelles Handeln unerlässlich ist und ein hoher Informationsbedarf besteht. Die Anforderungen an die Bereitstellung von Informationen, aber auch die Notwendigkeit, eigene Informationen schnell und effizient zu erfassen, können sich dabei in kurzen Abständen verändern.
Das auf Esri Technologie basierende Dashboard des Robert-Koch-Instituts ist vermutlich den meisten Menschen bekannt. Zu Beginn der Pandemie hat der Krisenstab von Westnetz ein vergleichbares Dashboard verwendet, um das Pandemiegeschehen an Standorten des Unternehmens, insbesondere in kritischen Funktionen, im Blick zu behalten.
2021 stellte die Flutkatastrophe im Ahrtal mit ihrer großen zerstörerischen Kraft die Netzbetreiber in der Region vor gewaltige Herausforderungen. Innerhalb kürzester Zeit konnte Westnetz eine Anwendung erstellen, die Informationen aus den eigenen Netzen mit verfügbaren externen Daten wie Luftbildern, Gelände- und Flutmodellen visualisierte.
Die Erfassung wichtiger Informationen wie z.B. Aggregatstandorte, Status der Überprüfung und Wiederversorgung von Hausanschlüssen und vieles mehr war möglich. Die sich ständig ändernden Anforderungen vor Ort wurden in kurzen Sprintzyklen – anfangs täglich – umgesetzt. Wichtige Erfolgsfaktoren waren eine bereits vorhandene Esri Enterprise Umgebung, eigene Kapazitäten zur Anwendungsgestaltung und die Erfahrung sowohl der Entwickler*innen als auch der Nutzer*innen mit agilen Methoden.
In der Phase des Wiederaufbaus stand die Resilienz der Netze mehr denn je im Vordergrund.
Im Rahmen eines Trainee-Projektes wurden u.a. unterschiedliche Flutszenarien auf die Standorte der eigenen Anlagen übertragen und die Ergebnisse in einer WebApp aufbereitet. Auch hier ist das Bemerkenswerte nicht etwa eine besondere Komplexität der Anwendung, sondern die selbstverständliche Nutzung der im Unternehmen verfügbaren Esri Software durch immer mehr Anwender*innen.
Planung und Baugeschehen
Die Bautätigkeiten in den Netzen sind im Zuge der Energiewende und Digitalisierung immens. In hohem Maße trifft das auf den Ausbau der Glasfasernetze zu. Westnetz plant und baut Fttx-Netze für die Westenergie-Beteiligung Westconnect.
Für jede Planung werden gute Grundlagen benötigt. Seit einigen Jahren hat Westnetz eigene Fahrzeuge für die Erstellung von MobileMapping-Daten im Einsatz. Es entstehen vereinfacht gesagt Panorama-Bilder, allerdings mit hinterlegten 3D-Punktwolken, die auch Messungen in den Bilddaten ermöglichen.
Diese Befahrungen werden in WebApps von Esri integriert und von dort über ein Plugin von den Planer*innen aufgerufen und genutzt. Dadurch lassen sich Vor-Ort-Zeiten in der Planungsphase deutlich reduzieren. Gleichzeitig erfolgt eine Beweissicherung des Zustandes der Umgebung vor Beginn der Tiefbauarbeiten und bei Folgebefahrungen eine abschließende Dokumentation.
Wenn die Planungs- in die Bauphase übergeht, ist ein nahtloser und unmittelbarer Informationsfluss in gleichbleibender Qualität zwischen allen Beteiligten und in allen beteiligten IT-Systemen unerlässlich. Medienbrüche sind zu vermeiden und einheitliche Qualität, sowie zeitnahe Dokumentation sind gefordert.
Die Westnetz ermöglicht heute im Glasfaserausbau die Darstellung und Erfassung umfassender planungsrelevanter Informationen in einer WebApp von Esri. Dazu gehören neben den geplanten Netzen und Anschlüssen unter anderem die Genehmigungsgebiete, der tägliche Baufortschritt, aber auch die Aufteilung der Aufgaben und Baustellen auf die beteiligten Partnerunternehmen.
Vor Ort wird der Baufortschritt der Glasfaseranschlüsse über eine FieldMaps-Anwendung erfasst. Dies beinhaltet eine Fotodokumentation und den Einsatz von Barcodescans wesentlicher Netzelemente. Die Projektleitung behält alle relevanten Informationen mit ArcGIS Insights im Blick. Im Hintergrund der Systeme wird der Datenfluss über FME gesteuert. AccessControl von VertiGIS ermöglicht die Zugriffsbeschränkung für die beteiligten Partnerunternehmen über Gebietszuordnungen und Attribute.
Neue Wege finden
Digitale Navigationsanwendungen sind weit verbreitet. Aber auch in Energienetzwerken ist Routing relevant.
Westnetz nutzt die Möglichkeiten des Routings in verschiedenen Anwendungen. So etwa für die Kalkulation der Anbindung von Funkmasten an das eigene Netz, wobei kostenoptimierte Streckenführungen hinsichtlich der Tiefbaukosten überschlägig ermittelt werden.
Ein interessantes Pilotprojekt wurde zusammen mit E.ON Hydrogene GmbH und Esri zur Jahreswende 2022/23 durchgeführt. Allem voran stand die Frage: Wie kann Wasserstoff oder ein Vorprodukt von den Verladeterminals an den Küsten zu potenziellen Großkunden transportiert werden ohne ein vollständiges Leitungsnetz. Hierfür steht der Transport über Straße, Schiene, Wasserwege und gegebenenfalls Pipelines in verschiedenen Ausbaustufen zur Verfügung. Der Wechsel zwischen den Transportmitteln ist nur an bestimmten Punkten möglich, benötigt Zeit und verursacht Kosten. Zudem gibt es Limitierungen in den Transportmengen pro Zeiteinheit. In diesem Projekt wurde eine erste Lösung für multimodales Routing entwickelt, mit der bestimmte Szenarien getestet werden können.
Ausblick
Nach nunmehr zehn Jahren Erfahrungen mit Esri Technologie ist es wichtig, die gesamte Systemumgebung auf ein neues Level zu heben. Dies geschieht durch ein Upgrade auf ArcGIS Utility Networks und VertiGIS Networks in den nächsten drei Jahren.
Diese groß angelegte Migration wird die GIS-Landschaft bei Westnetz grundlegend verändern und für die kommenden Herausforderungen rüsten. Die neue Umgebung wird konsequent in der Cloud aufgebaut, was die Skalierbarkeit und Flexibilität weiter steigert. Bestehende WebApps werden mit dem ExperienceBuilder und VertiGIS-Studio modernisiert.
Die Suche nach neuen Lösungen darf in der Zeit des Umbaus nicht enden. Ein wichtiger Baustein ist die kontinuierliche Weiterbildung der eigenen Mitarbeiter*innen im Geo-IT-Umfeld und deren Bereitschaft, bestehende und kommende Technologien zu erproben. Diesen Weg beschreitet die Westnetz gemeinsam mit ihren Partnern, unter anderem Esri und VertiGIS.
Doch die Leidenschaft der Geo-IT-Expert*innen für neue Technologien allein reicht nicht aus. Das Wissen über die Möglichkeiten muss auch den potenziellen Anwender*innen im Unternehmen zugänglich gemacht werden. So können neue Ideen entstehen. Daran arbeitet die Westnetz konsequent.
Autor: Erik Jacobi
Leiter Geoinformationssysteme bei Westnetz GmbH